Etienne Kasuku taucht sein Paddel tief in die braune Brühe des Onane. Zwei Züge links, zwei Züge rechts. Er reißt die Augen weit auf, um die Stelle zu entdecken, an der er seine Fischfalle ausgeworfen hat. Doch vor seinen Augen verschwimmt alles: die Wellen, die seine Piroge schlägt, das flirrende Sonnenlicht, die Schatten der Bäume auf dem Wasser. Kasuku peilt die ungefähre Richtung an. Hektisch streckt er seinen Finger aus, als er die Falle erkennt und steuert darauf zu. Er greift ein Tau und zieht den Korb herauf. An diesem Tag kommt der Fischer zu spät: Über seinen Fang haben sich Krebse hergemacht, die jetzt im Korb übereinander krabbeln.

Kasuku kehrt mit leeren Händen zurück. Am Ufer des Flusses sitzt sein Vater auf einer anderen leeren Fischfalle. Er weiß, was sein Sohn gerade durchmacht. An einem Morgen vor acht Jahren wachte Germain Nduba auf und konnte nur noch hell und dunkel unterscheiden. Seine Augen sind jetzt auf den Ort gerichtet, wo er seinen Sohn vermutet. Die „Flussblindheit“ hat Nduba das Augenlicht geraubt. Seither ist der einstige Fischer das, was die Menschen hier als „Mund ohne Hände“ bezeichnen: Er trägt nicht mehr zum Einkommen der Familie bei, muss aber mit durchgefüttert werden. „Ich bin nutzlos“, sagt Nduba.

Der Onane, an dem die Familie wohnt, schlängelt sich durch den Regenwald im Norden der Demokratischen Republik Kongo. Entlang seiner Ufer leiden tausende Menschen wie Nduba an der Flussblindheit. Fast jeder zweite seiner Landsleute lebt in einer Gegend, in der er sich damit anstecken könnte. Die Flussblindheit gehört zu den „Vernachlässigten Tropischen Krankheiten“, die Millionen Menschen vor allem in armen Teilen der Welt befallen, Leiden, für die es nur wenig Forschungsgelder und kaum Aufmerksamkeit gibt (siehe Kasten).

Nduba sagt, wenn sein Sohn nicht wieder gesund wird, hat die Familie keine Chance. Denn ein Kranker fordert viele Opfer. Der 37 Jahre alte Etienne Kasuku muss sich um seinen

Vater kümmern und zugleich härter arbeiten, um alle durchzubringen. Wenn er zum Fischen auf den Fluss fährt, braucht der blinde, alte Mann Betreuung. Die übernimmt Marco, der zehnjährige Sohn von Kasuku, der hinter seinem Großvater steht und mit einer leeren Dose Redbull spielt. Nur wenn er mithilft, kommt die Familie halbwegs über die Runden. Vorausgesetzt, Kasuku behält sein Augenlicht …

Ausgabe: GEO 09/2022